Wo in der Schweiz Rassismus angezeigt werden kann

Der Rassismus in der Welt nimmt zu und die Schweiz ist keine Ausnahme. Im Jahr 2019 wurden 575 rassistische Vorfälle im öffentlichen Raum gemeldet. Bei einigen davon handelte es sich sogar um auf rechtsextremen Ideologien basierende Vorfälle. Allerdings werden nicht alle Fälle, die im Schweizer Alltag vorkommen, angezeigt oder schaffen es bis zu den Beratungsstellen für Rassismusopfer.

Für die Opfer ist es wichtig, über den Rassismus, der in einem Land wie der Schweiz vorkommt, zu sprechen. Sie sind der Auffassung, dass dies der einzige Weg ist, die Normalisierung, welche der Rassismus erreicht hat, abzubauen. Wer in der Schweiz über Rassismus spricht, hindert nicht nur Rassistinnen und Rassisten daran, diesen weiter zu fördern, sondern trägt darüber hinaus, wenn auch nur minimal, zum Abbau von Strukturen bei, die sich durch Rassismus verfestigt haben. Weiter betonen sie, dass alle Formen der Rassendiskriminierung ein Verbrechen sind.

Nicht alle rassistischen Handlungen werden gemeldet oder, was noch schlimmer ist, überhaupt als rassistisch angesehen. Auf jeden Fall sollten die Opfer von Rassismus diesen anzeigen, denn nur so kann die Realität dieser Problematik, welche sich täglich auf den Strassen dieses Landes abspielt, statistisch erfasst werden.

Wir von Lucify.ch haben mit Gina Vega gesprochen, einer Kolumbianerin, die als Leiterin der Fachstelle für Diskriminierung und Rassismus und zugleich als Projektleiterin des «Beratungsnetzes für Rassismusopfer» arbeitet.

Lucify.ch: Gina, aus welchen Gründen und wann entsteht die Notwendigkeit ein Netzwerk für die Opfer von Rassismus zu schaffen und wer sind dessen Mitglieder?

Gina Vega: Das Beratungsnetz für Rassismusopfer besteht aus 22 Beratungsstellen in der ganzen Schweiz. Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit der Menschenrechtsorganisation HumanRights.ch und der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus durchgeführt. Es wurde vor 12 Jahren gegründet, um die Beratungsstellen zu unterstützen. Diese stehen Menschen, welche in diesem Land unter Rassendiskriminierung leiden, zur Verfügung.

Lucify.ch: Lassen Sie uns über die Bestimmung sprechen, welche den Rassismus in der Schweiz unter Strafe stellt: Der Artikel 261 bis des schweizerischen Strafgesetzbuches. Worin besteht dieses Gesetz, wie weit reicht es und wie schützt es die Bevölkerung, insbesondere Migrantinnen und Migranten, welche dem Rassismus hierzulande zum Opfer fallen?

Gina Vega: Ich bin keine Anwältin. Daher kann ich dir nicht sagen, welchen juristischen Einschränkungen dieses Gesetz unterliegt. Ich kann jedoch sagen, dass es in der Schweiz nur sehr wenige Gesetze zur Verurteilung von Rassismus oder Rassendiskriminierung gibt. Es gibt zwei Gesetze. Das erste ist der Artikel 8 der Schweizer Verfassung, welcher jegliche Diskriminierung aufgrund von Religion, Nationalität oder Hautfarbe verurteilt. Das zweite ist der Artikel 261 bis des schweizerischen Strafgesetzbuches, welcher ebenfalls Handlungen der Rassendiskriminierung verurteilt. Das Problem mit diesen Artikeln ist, dass sie so eingeschränkt sind, dass in einigen schwerwiegenden Fällen rassistische Diskriminierung nicht wirklich unter Berufung auf ihre Gerichtsbarkeit verurteilt werden kann.

Lucify.ch: In welchem Fall kann z. B. nicht auf das Gesetz berufen werden?

Gina Vega: Wenn z. B. eine Person sagen würde, dass die gesamte Bevölkerung mit Migrationshintergrund für die Verbreitung des Coronavirus verantwortlich ist. Dies ist eine Aussage, die nicht unter Berufung auf die von mir soeben erwähnten Artikel verurteilt werden kann. In der Tat hat es Fälle gegeben, in denen rechte Parteien rassistische Kampagnen initiiert haben und dafür angezeigt, jedoch nicht verurteilt wurden.

Lucify.ch: Was ist der Grund dafür, dass diese Rechtsinstrumente nicht gültig sind, um Rassismus in Fällen wie dem von dir erwähnten zu verurteilen?

Gina Vega: Der Hauptgrund dafür ist, dass in einem Land wie der Schweiz das Recht auf Meinungsfreiheit vorherrscht. Folglich fallen diskriminierende Handlungen sowie fremdenfeindliche oder rassistische Äusserungen unter die Meinungsfreiheit von Einzelpersonen, auch wenn diese Meinungen rassistischer Natur ist.

Lucify.ch: Wenn die Opfer von Rassismus durch das Recht rassistischer Menschen auf freie Meinungsäusserung eingeschränkt werden, was kann man dann tun, um Rassismus anzuzeigen?

Gina Vega: Die Beratungsstellen haben andere Interventionsmöglichkeiten entwickelt. Eine davon ist die Schlichtung zwischen den Parteien, welche in Form eines schriftlichen Beschwerdeprozess stattfindet, bei dem die Gründe, warum eine Person in einer verunglimpfenden oder diskriminierenden Weise behandelt wurde, formell schriftlich eingefordert werden.

Eine weitere Strategie der Beratungsstellen besteht darin, die Opfer von Rassismus zu ermächtigen, sie an ihre Rechte und Ressourcen zu erinnern, denn Rassismus ist sehr schmerzhaft und oft werden rassistische Erfahrungen von den Opfern so verinnerlicht, dass diese Erfahrungen zu emotionalen und sozialen Problemen führen, welche sogar traumatische Auswirkungen haben können. Viele Opfer von Rassismus haben Angst davor, auf die Strasse zu gehen, und haben sogar Angst vor Institutionen, der Polizei oder der Bundesverwaltung.

Lucify.ch: Das Beratungsnetz für Rassismusopfer  Beratungsnetz für Rassismusopfer veröffentlicht einen Jahresbericht über die Situation der Opfer von Rassismus in der Schweiz. Dem Bericht zufolge wurden von den Beratungsstellen für Rassismusopfer im Jahr 2019 575 Fälle von Rassismus dokumentiert. 575, dies ist zwar eine bedeutende Zahl, aber sie ist sehr niedrig für das, was eine Person mit Migrationshintergrund wie ich täglich erlebt. Woher kommen diese Zahlen und was bedeuten sie?

Vollständiger Bericht: http://network-racism.ch/cms/upload/200421_Rassismusbericht_19_D.pdf

Gina Vega: Diese Zahlen reflektieren die Anzahl Opfer, welche die Beratungsstellen aufsuchen. In 352 der 575 Fälle, welche 2019 dokumentiert wurden, konnte Rassendiskriminierung nachgewiesen werden. Es ist jedoch wichtig zu bedenken, dass Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus ein tief verwurzeltes strukturelles Problem unserer Gesellschaft darstellen. So sind Institutionen und Rechtssysteme gewachsen, auch hier in der Schweiz. In vielen Fällen diskriminieren diese Systeme und als Folge des institutionellen strukturellen Rassismus werden diese Tatsachen nicht als direkte Rassendiskriminierung betrachtet.

Lucify.ch: Könntest du bitte einen konkreten Fall benennen?

Ja, klar. Ich möchte z. B. auf den Fall einer Familie verweisen, die fälschlicherweise von einer Nachbarin angeschuldigt wurde. Die Nachbarin bezeichnete die Kinder der zu Unrecht beschuldigten Familie sogar als «Schimpansenkinder». Aufgrund dieser falschen Anschuldigungen wurde die Familie aus ihrer Wohnung geworfen. Als die zu Unrecht beschuldigte Familie mit der Beratungsstelle sprach und Zeugen mitbrachte, welche die Anschuldigungen der Nachbarin als falsch bestätigten, konnte die Kündigung der Wohnung rückgängig gemacht werden. Dies ist ein Beispiel für einen schweren Fall, der eine Familie direkt betrifft und als direkte Rassendiskriminierung verstanden und behandelt werden kann.

Ein anderer Fall, den ich erwähnen möchte, ist der eines jungen Mannes, der in einem Restaurant arbeitet. Obwohl er seine Arbeit vorbildlich verrichtet, nennen ihn alle seine Mitarbeitenden und auch sein Chef «Taliban». Alles was er will ist an seinem Arbeitsplatz respektvoll behandelt zu werden.

Dann ist da noch der Fall einer Frau, die auf der Strasse beleidigt wurde, weil sie ein Kopftuch trug. Ihr wurde nicht nur gesagt, dass sie in ihr Land zurückkehren solle, sie wurde zudem so behandelt, als ob sie unfähig sei, ihre Kinder in einem Land wie der Schweiz aufzuziehen. Diese Frau ist wiederholt auf der Strasse so sehr beschimpft worden, dass sie ihr Haus nicht mehr verlassen will.

Lucify.ch: Wie wird von euch die Bevölkerung identifiziert, welche am meisten unter dieser Art von rassistischen Übergriffen leidet? Welches Profil haben die Menschen, welche sich an diese Beratungsstellen wenden?

Gina Vega: Die am meisten von Vorfällen bezüglich Rassendiskriminierung betroffenen Personen im Jahr 2019 waren Personen der afrikanischen Bevölkerungsgruppe, Muslime und Araber*innen. Dies bedeutet nicht, dass davon nicht auch andere Bevölkerungsgruppen und Minderheiten betroffen sind, sondern lediglich, dass aus den genannten Bevölkerungsgruppen bei den Beratungsstellen für Rassismusopfer die meisten Fälle gemeldet wurden.

Andererseits wenden sich Menschen verschiedener Nationalitäten an die Beratungsstellen. Viele von ihnen sind eingebürgert und haben einen Schweizer Pass. Aber darunter sind auch Menschen anderer Nationalitäten, etwa aus Afrika, Lateinamerika und Asien. Männer suchen die Beratungsstellen häufiger auf als Frauen. Ebenfalls häufiger handelt es sich um Menschen, die Deutsch sprechen oder über gute Italienisch- oder Französischkentnisse verfügen. Die bei den Beratungsstellen auf französischer oder italienischer Seite gemeldeten Fälle unterscheiden sich von den auf deutscher Seite gemeldeten Vorfällen. In jedem Fall handelt es sich um Profile von Personen, insbesondere Männern, zwischen 30 und 50 Jahren.

Wir gehen auch Fällen von Mehrfachdiskriminierung nach. Im Jahr 2019 wurde beispielsweise festgestellt, dass 40 Menschen nicht nur von Rassendiskriminierung, sondern auch von Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts und in 66 Fällen ihres rechtlichen Status direkt betroffen waren.

Lucify.ch: Wie kann sich ein Opfer an eine Beratungsstelle für Rassismusopfer wenden und wo befinden sich diese?

Gina Vega: Alle Informationen dazu sind auf der Website: network-racism.ch zu finden. Beim Besuch der Webseite erscheint eine interaktive Karte. Opfer von Rassendiskriminierung können auf dieser Seite ihren Wohnkanton oder in ihrer Stadt eingeben und alle Informationen über die Beratungsstellen für Rassismusopfer in ihrer Umgebung abrufen.

Vollständiger Bericht: http://network-racism.ch/cms/upload/200421_Rassismusbericht_19_D.pdf

Über Karmen

Karmen ist eine Langzeit-Aktivistin für Menschenrechte, insbesondere für die Rechte der Indigenen und der indigenen Frauen in Südamerika. Sie ist Fürsprecherin der Rechte der indigenen Völker und war Fachberaterin unter anderem in Kanada (WHRI) und Genf (UNITAR und ONU). 2005 hat sie in Kolumbien die Organization Fuerza de Mujeres Wayuu gegründet und seitdem verschiedene Entwicklungsprojekte realisiert. Seit 2007 ist sie für das Indigenous Portal als Editorin tätig und hat mehrere Artikel über die Wayu-Frauen geschrieben. Sie hat 2015 den erfolgreichen Kanal Wayuunaiki para el Mundo für die Vermittlung der einheimischen Sprache der Wayu-Leute gegründet.

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