Annas Buch

Noras_alphabet

„Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben“. Dieses Sprichwort von Joan Didion kommt mir in den Sinn, während ich „Noras kleines Corona-Alphabet“ von Anna Butan lese. Es ist eigentlich gar kein kleines Alphabet, sondern eine historische Spur, die den neuen Generationen als Orientierung dienen kann.

Die Autorin sieht die Pandemie als Feind und Retter zugleich. Um all das Leid zu beschreiben, wählt sie eine Version des Alphabets, um von Alpha bis Omega unsere Fehler zu skizzieren. Sie schreibt in ihrem Buch: „Manche sagen, das Virus sei ein Zeichen. Andere sagen, es sei ein Segen: «Schau nur, wie grün die Erde geworden ist, seit wir Menschen im Spital eingesperrt sind!» «Schau nur, wie die Tiere glücklich sind!» «Unserem Planeten geht es besser ohne die Menschen!» Das Buch beginnt wie ein Tagebuch.

Berichte aus der Pandemiezeit und den auftauchenden Gefühlen werden beschrieben. Es werden seelische Narben durch die Sprache benannt, und das Buch ist im Gedenken an eine Grossmutter gewidmet. Jedem Buchstaben ist ein eigenes Kapitel zugeteilt. Es sind Sätze, die viele Zeitepochen und Zeiträume miteinander verbinden. Manche führen mich als Leserin sogar bis ins Jenseits. Die Hauptpersonen des Buches sind Grossmutter Nora, Familie, Nachbarn, Medien und Freunde. Das übergeordnete Thema ist immer Covid-19. Die Autorin hat in meiner Fantasie in einer Hand einen Bleistift und in der anderen Hand eine Lupe, um während der Quarantäne durch alle Zeiten hindurch zusehen. Sie sieht klar wie eine gute Psychologin.

Am Anfang mag der Leser vielleicht denken, die Erzählung ist eine persönliche Biographie aus der Pandemiezeit. Im Verlauf des Buches wird jedoch offensichtlich, dass es sich bei den Beschreibungen um eine Art Welt-Tagebuch handelt.

Die Autorin schreibt: „Noras Eltern haben ihr diese Geschichte erzählt: Ihr Vater überlebte durch ein Wunder die monströse «Spanische Grippe»… Sie kann sich kaum an ihn erinnern. Die Nachkriegszeit war für die achtköpfige Familie schwer. Im Alter von acht Jahren musste Nora die Familie verlassen und als Verdingkind arbeiten. Sie musste Frau Kambly im Haushalt helfen. Ihr Mann wurde durch die berühmten «Militärbiscuits» reich. Nora erinnert sich nur noch an das Gesicht ihres Vaters, der den ersten und den zweiten Weltkrieg überlebt hatte, sowie seinen Kampf mit der tödlichen Spanischen Grippe.“

Nora steht hier wie der KLEINE PRINZ bei Antonie de Saint Exupery. Sie ist jedoch nicht klein, sondern dement. Sie hat sogar vergessen, dass sie Musikerin war. Sie wiegt sich in ihren Gefühlen an die Vergangenheit. Noras Monologe in verlorenen Erinnerungen bewirken eine sehr intime Beziehung zwischen dieser Figur und mir als Leserin. Die Autorin lässt die Protagonistin auch zu gesellschaftlichen Themen zu Wort kommen: „Wir haben vergessen, wie man der Natur zuhört, wie man sich auf das Wichtigste konzentriert, wie man sich mit wenig zufrieden gibt und wie man einen Schritt nach dem Anderen geht. Stattdessen kämpfen wir Menschen und kämpfen und kämpfen weiter.

Wir kämpfen gegen andere Länder, gegen die NachbarInnen, gegen die eigenen Kinder und gegen uns selbst „Es sind viele soziale Werte in diesem Buch verflochten, aber auch der Lebensstress, dem wir ausgesetzt sind und die Schmerzen, die wir tragen, sind ein Thema.“ Gibt es auch Hoffnung? Ja, denn das ganze Buch ist gleichsam mit warmen Farben gezeichnet. Immer wieder findet der Leser auch positive Deutungen: „Ist es das Ende des menschlichen Egoismus und der Anfang von etwas Neuem? Das Ende der Welt ist wahrscheinlich nur das Ende der uns bekannten Welt, das Ende der alten Prinzipien, aber auch der Anfang einer neuen Ära. Das Virus bringt die Menschen dazu, nach Verbindungen mit anderen zu streben, sich selbst als Teil einer Gemeinschaft wahrzunehmen und festzustellen, wie verwoben alles ist. Und mehr als alles andere bringt uns Covid-19 dazu, einzusehen wie sehr wir von der Natur abhängen. Wir sind immer noch ein Teil von ihr. Und werden es immer sein.“

Nora lebt weiter und erkennt die Gegenwart wie auch die Vergangenheit mit ihren Gefühlen. Die Leser können viel Empathie mit Nora entwickeln. Wir lernen und reflektieren zusammen mit den Erfahrungen dieser einzigartigen Protagonistin. 

Mehr Info über das Buch: http://www.edition-unik.ch/journal

Über Hava

Hava Kurti Krasniqi ist Albanerin aus dem Kosovo. Die Journalistin lebt in Zürich und arbeitet als Scriptwriterin und Buchautorin. Ihr neuestes Buch ist über Geschichten vom Fussball Feld. Sie ist auch als Kulturvermittlerin und Moderatorin beim Femmes Tische engagiert.

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