Wie wäre die Schweiz, wenn die 4/4 die Entscheidungen treffen würden?

Am 5. April veranstaltete der Verein Vierviertel im Berner PolitForum das KickOff der Volksinitiative für ein modernes Bürgerrecht – Lokalkomitee Bern. Bürger*innen, Politiker*innen und Aktivist*innen tauschten sich über die Strategie dieser Aktion aus, die darauf abzielt, unsere Gesellschaft von einer 3/4-Demokratie zu einer 4/4-Demokratie zu verändern.

Die 1/4 der Bevölkerung ohne politische Rechte
Heute ist die Schweizer Demokratie das Privileg von 3/4 der Bevölkerung. Aber es gibt etwa 25% der Menschen, die hier leben, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben oder sogar hier geboren und aufgewachsen sind, die keine politischen Rechte beziehungsweise keinen Schweizer Pass haben. Für diese Menschen ist es oft sehr schwierig, sich einbürgern zu lassen, weil das Einbürgerungsverfahren sehr willkürlich und diskriminierend ist.

Die Einbürgerungsverfahren sind in den verschiedenen Kantonen und Gemeinden sehr unterschiedlich. Die Hürden sind sehr hoch und das Prozess greift oft in das Privatleben der Menschen ein: „Zum Beispiel, wenn an der Gemeindeversammlung entschieden wird, ob jemand eingebürgert werden soll oder nicht, und dann heisst es, die Person sei nicht genügend integriert, weil sie in der Trainingshose durchs Dorf läuft“, sagt Tarek Naguib, Komiteemitglied von Vierviertel.

Und oft sind Menschen in schwierigen sozioökonomischen Verhältnissen besonders betroffen. Tarek Naguib erzählt uns den Fall einer Frau im Kanton Bern, die als Alleinerziehende mit drei oder vier Jobs immer noch von der Sozialhilfe abhängig ist. Sie lebt seit langem hier und betrachtet sich als Schweizerin. Nur weil sie noch Schulden bei der Sozialhilfe hat, hat sie keine Chance, einen Schweizer Pass zu bekommen. Dem will die Aktion Vierviertel entgegenwirken. Zum Beispiel, indem die Voraussetzungen für die Einbürgerung auf Bundesebene festgelegt werden, so dass sie überall gleich sind. Die Gesuche würden weiterhin auf kantonaler und kommunaler Ebene geprüft, aber vor allem die „Integrationskriterien“ könnten nicht mehr so willkürlich entschieden.

Tarek Naguib, Komiteemitglied Vierviertel.

Der Hintergrund des Problems
Am KickOff gaben der Politiker Bernhard Pulver und der Sozialanthropologe Rohit Jain einen kurzen historischen Überblick über die Einbürgerungspolitik in der Schweiz.
Im Jahr 1981 wurde die „Mittenand-Initiative für eine neue Ausländerpolitik“ abgelehnt. Seither wird vor allem gegen den Rechten von Migrantinnen argumentiert. Die Kampagne der SVP haben oft die Migrantinnen als fremd und gefährlich dargestellt. Im Jahr 2015 wurden sogar die Einbürgerungsbedingungen mit der Einführung des obligatorischen C-Ausweises und des „Integrationstests“ auch für erleichterte Einbürgerungen verschärft. Die Linke und die Grünen haben sich dem Thema hauptsächlich defensiv gehalten. Jetzt sei die Zeit reif, das Thema der unvollständigen Demokratie wieder an die Urne zu bringen, so B. Pulver.

Ein möglicher Grund dafür, dass heute die Zeit reif sei, ist dass heute viele gebildete Bürger*innen ohne Pass hier leben, die sich aufgrund eines willkürlichen und unsachlichen Verfahrens nicht einbürgern lassen wollen oder können.
Rohit Jain, Sozialanthropologe und Aktivist betont wie demütigend es ist, einem solchen Verfahren unterworfen zu sein. Wer entscheidet, was „schweizerisch“ ist? Wenn man sich den Diskurs über die Staatsbürgerschaft in der Schweiz über die Jahre hinweg ansieht, erkennt man, dass er auf einem rassistischen, fremdenfeindlichen und patriarchalischen Wertesystem basiert. Die Staatsbürgerschaft wird als etwas angesehen, das vom weissen christlichen Vater gehütet werden muss. Deshalb besassen bis in die 1990er Jahren Frauen die Staatsbürgerschaft nur über ihre Ehemänner oder Väter, und wenn sie einen Ausländer heirateten, wurden sie ausgebürgert.

Die Initiative des Vereins Vierviertel
Der Verein Vierviertel hat auf aktionvierviertel.ch sein Manifest für eine moderne Schweiz veröffentlicht, in dem er u.A. fordert, dass der Staat die Einbürgerung aller Bürger*innen aktiv fördert und die Einbürgerungsvoraussetzungen objektiviert. Dafür wird das Komitee in den nächsten Monate die „Volksinitiative für ein modernes Bürgerrecht“ zur Änderung der Bundesverfassung lancieren und Unterschriften sammeln.
Die Voraussetzung für die Einbürgerung sollten dann einfacher sein:

  • 5 Jahre Aufenthalt (ohne Bewilligung C)
  • keine Verurteilung zu einer langjährigen Freiheitsstrafe
  • keine Gefährdung der inneren oder äusseren Sicherheit der Schweiz
  • Grundkenntnisse in einer Landessprache

Derzeit ist ein C-Ausweis erforderlich, und um diese zu beantragen, muss man seit mindestens 10 Jahren in der Schweiz wohnhaft sein und je nach Kanton seit 2 bis 5 Jahren in der einreichenden Gemeinde/Kanton leben.
Hinzu kommen schwer zu definierende Kriterien wie „erfolgreiche Integration“ und „Kenntnis der schweizerischen Lebensverhältnisse“, die die Initiative in „Grundkenntnisse einer Landessprache“ ändern will. Das Sicherheitskriterium, dass die Person die innere und äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährdet, würde bestehen bleiben und sogar durch die Vorgabe verstärkt, dass man nicht zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt worden sein darf.

Der Grundgedanke der Initiative ist, dass der Staat selbst für faire Rahmenbedingungen sorgt. „So können wir die gesamte Gesellschaft integrationsfähig und unsere Demokratie zukunftsfähig machen, denn Demokratie ist nichts anderes als die Fähigkeit, über Gesetze von denjenigen zu entscheiden, die ihnen unterworfen sind“, sagt der Jurist Tarek Naguib in unserem Video-Interview.

Es bleibt abzuwarten, ob diese Initiative die Schweiz in den nächsten Jahren zu einer echten Demokratie machen wird. Im Grunde ist es eine Frage des Privilegs: Werden die privilegierten 3/4 der Bevölkerung ihre Rechte mit dem anderen Viertel teilen wollen? Nur sie können schlussendlich darüber entscheiden.

Über Perla Ciommi

Perla ist Film- und Kulturwissenschaftlerin. Ihre Leidenschaft für die Filmproduktion begann 2000 in Bologna, Italien mit einem Videokurs. Als sie ein Jahr später einen Dokumentarfilm in Indien drehte, entschied sie für sich, dass dies ihr Weg sein wird. Seitdem dokumentierte sie mit ihrer Kamera unter anderem die Häuserbesetzerszene in Paris, die Community des Radio RaBe in Bern, die Lindy-Hop-Szene in der Schweiz und die politische Partizipation von Migrantinnen in der Schweiz. Nach einer Weiterbildung in Kommunikation hat sie sich auch dem Journalismus und der Kreation von Webinhalten gewidmet.

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