Identität einer Flüchtlingsfrau

«Ich habe nichts» bedeutet nicht «Ich bin nichts».
Es ist die Realität, wenn wir über die Flüchtlingsfrauen und das Konzept von Identität sprechen.

Wenn wir über Identität reden, dann sprechen wir von der Identität der Männer und Frauen oder von transsexuellen Personen, welche aufgrund ihres Geschlechts und sexuellen Orientierung bestimmt sind. Aber wie ist es, über die Identität von Flüchtlingsfrauen zu reden?

Wie kann eine Flüchtlingsfrau sich identifizieren? Als eine Frau im Bezug auf ihr Geschlecht oder als ein Flüchtling im gesetzlichen Kontext?

Es scheint einfach Frauen,  die ihre Länder wegen Krieg und anderen politischen Gründen verlassen haben oder dazu gezwungen wurden, als Flüchtlingsfrauen zu definieren. Aber die Identität von Flüchtlingsfrauen zu definieren ist nicht so einfach, wie man denkt.

Für entwurzelte Menschen und Flüchtlinge kann jede neue Situation und jeder neue Ort die Identität, ihre Selbstwahrnehmung und ihr emotionales Wohlbefinden verändern. Entwurzelte Frauen vor allem, sind mit verschiedenen ausgeprägten Herausforderungen konfrontiert, die ihre Identität beeinflussen.

Eine der grossen Herausforderungen, die Flüchtlingsfrauen oft haben, ist, dass sie von den Behörden und Institutionen wie leere Papiere behandelt werden, als ob sie keine Bildung hätten, keine Berufung oder gar kein Leben davor hatten. In Wirklichkeit sind die Flüchtlingsfrauen mehr als leeres Papier. Ihre Vergangenheit und die Lebenserfahrungen beeinflussen ihre Identität täglich.

Doch eine Frau, die ihr Land verlässt, muss nicht unbedingt nur als ein Opfer oder als eine von Zuhause entwurzelte Person behandelt werden. Denn «Flüchtling sein» stellt die Idee vom «Zuhause» in Frage und vernichtet den damit verbundenen Aspekt «das Zuhause ist ein sicherer Ort, wo Frauen hingehören».

Meistens sind es genau die Frauen, die sich traditionell mit der Zugehörigkeit zur Heimat identifizieren, welche sich dann staatenlos und heimatlos fühlen, wenn sie zum Flüchtling werden.

Aber im Verlauf ihrer Flüchtlingsreise nutzen die Frauen auch die neuen Situationen als eine Möglichkeit für die Emanzipation und dafür, mehr Selbstbewusstsein aufzubauen.

«Identitäten sind die Namen, die wir den verschiedenen Arten und Weisen geben, durch die uns die Erzählungen der Vergangenheit positionieren und wie wir uns innerhalb diese Erzählung positionieren”» (Stuart Hall, 1994). Die Erfahrungen aus der Vergangenheit von Flüchtlingsfrauen sind vielfach verwirrend, beunruhigend, schmerzhaft und beeinflussen ihre Identität sehr stark.

Die Vergangenheit ist auch die Gegenwart für Flüchtlingsfrauen. Das Geschehene ist nicht nur eine Erinnerung, sondern auch ein Wiedererleben der Geschehnissen oder der Traumas.

Der Körper einer Flüchtlingsfrau besitzt seine eigene Erinnerungen und spricht seine eigene Sprache der Normalisierung. Besonders wenn die Frau etwas erlebt hat, worüber man nicht sprechen kann, wie zum Beispiel sexuelle Gewalt. Solche tiefgreifende Erlebnisse aus der Vergangenheit sind auch in der Gegenwart noch präsent. Wann wird eine Frau zu einer Flüchtlingsfrau?

Während des Prozesses der Wiederherstellung ihrer eigenen Identität, befinden sich Flüchtlingsfrauen ständig zwischen der Rolle des hilflosen Opfers und der ermächtigten Überlebenden. Zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, zwischen was sie sagen und worüber sie schweigen und zwischen der Entscheidung, eine Situation als Herausforderung wahrzunehmen oder sie als eine Chance zu ergreifen…

Das emotionale hin und her zwischen «hier» und «dort» verhindert die Integration, beeinflusst das Selbstvertrauen und verunsichert die eigene Identität. Der Flüchtlingsstatus im Gastland bestärkt dieses Schweigen durch sprachliche Barrieren, Rassismus, Diskrimination, Isolation und die Angst vor einer Ausschaffung noch mehr.

Flüchtlingsfrauen konstruieren ihre Identität neu im Bezug auf ihren historischen und persönlichen Kontext. Es gibt das vergangene «Ich», Identitäten, nationale und transnationale Systeme, Einbürgerung sowie sozial und kulturelle Umfelder. Das Geschlecht ist nur ein Aspekt von unserer Identität, vor allem in den Zeiten des wirtschaftlichen, urweltlichen oder politischen Umbruchs.

Darum sollten wir die Flüchtlingsfrauen nicht nur als hilflose Opfer, sondern als Menschen, die zu Opfer gemacht wurden wahrnehmen. In ihren Leben geht es darum, Widerstand zu leisten und auch das Risiko einzugehen, eine Situation zu verändern, in der sie sich befinden. Denn wir wissen nicht wann die Reise einer Flüchtlingsfrau beginnt und wann sie endet!

Über Kanchana Chandran

Kanchana Chandran ist Radio Journalistin aus Sri Lanka. Wegen Ihrer Tätigkeit als Journalistin musste sie das Land verlassen und lebt seit 2009 in der Schweiz. In der Schweiz arbeitet sie als Migrationsfachfrau für verschiedene Projekte und in Team Bildung bei der Schweizerische Flüchtlingshilfe in Bern. Als Menschenrechte Aktivistin ist sie bei verschiedenen Nationalen und Internationalen Organisationen aktiv unter dem auch bei Amnesty International. Migration, Integration und Flüchtlingsthemen sind die Schwerpunkte Ihrer Arbeit. Zur Zeit wirkt sie bei der Redaktion / Frauen Info beim Radio Lora in Zürich auch mit.

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