Lebenslauf und die Erfindung der neuen Identität

Die Geschichte die ich mit dir – liebe Frau, die du auch einen Migrationshintergrund hast – teilen möchte, ist die Geschichte des CV, Curriculum Vitae, des eigenen beruflichen Lebenslaufs und der damit verbundenen Identitätsfindung.

Jede von uns muss in Ihrem Leben mindestens einmal Ihren eigenen Lebenslauf verschriftlichen. In unserer jetzigen Zeit ist dadurch jede von uns mit der eigenen gespaltenen Identität konfrontiert. Damit, wer ich war bevor ich in die Schweiz kam und wer ich nun sein möchte und versuche zu sein, seitdem ich in der Schweiz bin.

Wer bin ich in dieser Welt? Eine Frage, die besonders für uns Migrantinnen und alle Frauen wichtig ist, die ihre eigene Identität neu kreieren und in einen neuen Kontext stellen müssen. Wieviel bin ich wert? Es wird nicht nur die Frage nach der eigenen Identität berührt, sondern auch jene nach dem Selbstwert der eigenen Persönlichkeit und nach dem Marktwert der eigenen Person als Produkt (in einer wirtschaftlich orientierten Welt). In diesem Kontext hat der CV eine grosse Auswirkung auf unser Selbstwertgefühl. Passt dein Profil optimal zu den Anforderungen des beruflichen Marktes in der Schweiz? Oder bist du noch viel mehr als dieses perfekte „Rad im Getriebe“?

Nun lass mich dir erzählen, was mit meiner professionellen Identität geschehen ist seitdem ich in der Schweiz lebe. Ich hoffe, dass mein Beispiel dich dazu inspiriert, über deine eigene berufliche Geschichte zu meditieren.

Ich kam in die Schweiz, um dort „Cultural Studies“ an der Universität Bern zu studieren. Durch mein Studium hindurch musste ich einen Weg finden, um in diesem unglaublich teuren Land überleben zu können. Aus Zufall fand ich einen Job als Hilfsassistentin für eine Frau im Rollstuhl. Es war für mich die Hölle, aber ich musste es akzeptieren, da in diesem Job keine deutsche Sprache vorausgesetzt wurde.

Später wollte es das Schicksal, dass ich heiratete und aus Bern wegzog. Davor entschied ich mich, einen Kurs für medizinische Pflegeassistenz zu absolvieren, damit ich meine 2 Jahre praktische Berufserfahrung mit einem Zertifikat ergänzen konnte. Der Kurs war kurz und effektiv und ermöglichte mir die minimale erforderliche Zertifizierung. Zugleich hat er mich jedoch soviel Geld gekostet, dass ich 2 Jahre zur vollständigen Abzahlung benötigt habe. Seitdem war die Pflege der einzige Berufsbereich, für den ich mich mit einer offiziellen Qualifikation auf eine Stelle bewerben konnte. Die einzig gültige Referenz für den Jobmarkt der Schweiz war die aktuelle in den letzten 2 Jahren absolvierte Pflegeassistenz und das einzig gültige Zertifikat auf dem Schweizer Arbeitsmarkt war jenes, das ich in der Schweiz erworben hatte.

Auf der anderen Seite aber spricht mein Lebenslauf von unterschiedlichsten beruflichen Erfahrungen und Fähigkeiten, die ich aus meinem Heimatland mitbringe. Grafik-Design, Eventmanagement, organisatorische- und koordinative Fähigkeiten, Promotionsarbeit für Medien, Copywriting, Marketing etc. Er beinhaltet eine Liste von Verlagshäusern, Namen von Magazinen, öffentlichen Vorlesungen und Werbeaktionen. Für den Schweizer Arbeitsmarkt jedoch gibt es nur einen gültigen Wert, nämlich die in der Schweiz gesammelten Berufserfahrungen und die in der Schweiz absolvierte Schulbildung.

Das ist der Punkt, wo wir als Migrantinnen automatisch ganz unten stehen. Wir sind gezwungen, auf dem niedrigsten Level des Arbeitsmarktes zu beginnen und uns über viele Hindernisse hinweg die Stufen nach oben zum gewöhnlichen beruflichen Erfolg zu erkämpfen. Dies kann ich so klar bestätigen, weil ich die CV’s der Lucify.ch Mitarbeiterinnen gesammelt und vereinheitlicht habe.

Das Lucify.ch Team setzt sich aus hoch ausgebildeten Frauen zusammen, die in ihren Heimatländern Brasilien, Irak, Kolumbien, Italien, Syrien und Mazedonien u.a. in den Medien- und Öffentlichkeitsarbeit tätig waren. Als solche haben sie die öffentliche Meinungsbildung in diesen Ländern aktiv mitgestaltet. Bei vielen von ihnen ist jedoch ihre berufliche Erfahrung und der Bildungsgrad, den sie aus ihren Heimatländern mitbringen, in der Schweiz rein gar nichts wert. Wie in meinem Fall sind auch sie häufig gezwungen, als Reingungskräfte oder in der Pflege zu arbeiten und zum Teil unbezahlte Voluntariate zu absolvieren.

Klar, natürlich werden jetzt viele sagen – so ist eben das Leben. Du musst für dein Überleben kämpfen. Das wird dich stärker machen. Aber stimmt das wirklich…? Meine Erfahrung ist, dass dieser andauernde Kampf um das Überleben mich eher schwächer macht. Dass er mich weniger wertvoll fühlen lässt als ich es eigentlich bin. Ich habe das Gefühl, an den Rand der Gesellschaft abgeschoben zu sein und an meinem eigenen Leben zu verzweifeln. Der Kampf um das eigene Überleben ist skrupellos. Er ist ermüdend und entzieht meiner Seele Lebensenergie. Er macht die Seele schwächer statt stärker.

Was mich aktuell stärker sein und fühlen lässt ist die Plattform Lucify.ch. Ein Ort, an dem ich mit meinen Kolleginnen zusammen kommen und meine Stimme erheben kann. Hier kann ich aktiv partizipieren und all meine vielfältigen Fähigkeiten konstruktiv einbringen. Lucify.ch ist ein Ort, an dem wir unsere Inhalte und Aktivitäten selbst planen und die volle Verantwortung für unsere Handlungen übernehmen. Hier kann ich sein wie ich tatsächlich bin. Entscheidungen treffen, verantwortungsvoll entscheiden und in Aktion treten – das ist es, was uns wirklich stärker macht und uns ermächtigt zu sagen: „Ja, ich bin aktiver Teil der Schweizer Gesellschaft“. Das ist meine persönliche gelungene Integration – nicht der blosse Kampf um’s Überleben.

Die Tatsache, dass ich meinen Beruf gewechselt habe um zu überleben sagt nichts über meine persönliche Niederlage in der Berufswelt aus. Viel mehr geht es hier um eine Grauzone in einem multikulturellen Land das nicht in der Lage ist, adäquate Möglichkeiten für eine gelungene Integration von Migrantinnen und Migranten anzubieten. Stattdessen werden hier Methoden der strukturellen Rassismus angewandt, indem die Fähigkeiten und Ressourcen der Migrantinnen und Migranten gezielt entwürdigt und geschwächt werden. Uns klein zu halten wird jedoch in einem viel weiteren Sinne noch mehr Schwierigkeiten und Probleme nach sich ziehen.

Auf der anderen Seite sind Projekte wie Lucify.ch in der Lage, reale Handlungsspielräume zu erschaffen. Wir sind jedoch auch hier mit der Schwierigkeit konfrontiert, authentische Projekte zu finanzieren. Lucify.ch kämpft immernoch um die notwendige finanzielle Unterstützung zur Realisierung weiterer Beiträge und Projekte. Dieser Kampf ist jedoch sehr viel inspirierender, denn hier stimmen unsere Lebensgeschichten mit unseren tatsächlichen Fähigkeiten und unserer wirklichen Identität überein. Persönlichkeiten von intelligenten, erfahrenen und starken Frauen – mit oder ohne perfekte Deutschkenntnisse.

Über Maya Taneva

Maya kommt ursprünglich aus einer politisch und kulturell stark geprägten Region des Balkans: Mazedonien. Sie ist in den 90er-Jahren in der Hauptstadt Skopje in einer Nachkriegsatmosphäre aufgewachsen. Damals gab es weder eine Kunstszene noch Kunst-Vereine. In diesen schwierigen Zeiten hat sie erkannt, wie wichtig es ist, Zeichen zu setzen und dass es Menschen gibt, die kreativ denken und arbeiten wollen. So war sie seit ihrer Jugendzeit mit verschiedenen kleinen und grossen Engagements in der subkulturellen Szene von Skopje aktiv: Kanal 103 Radio, Locomotion Festival, Dream On Festival… Seit 2012 wohnt sie in der Schweiz und studiert Weltliteratur an der Universität Bern am "Center for Global Studies (CGS)". "Es ist meine Vision, eine aktive Gestalterin und Promoterin der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen zu sein, die es in multikulturellen Milieus gibt. Insbesondere interessiert es mich, wie man die Rezeption der zeitgenössischen Kulturszene vertiefen und verbessern kann und Räume zu schaffen für multikulturellen Ausdruck, sowie für die Vermittlung zwischen Kultur und Politik."

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2 Kommentare zu “Lebenslauf und die Erfindung der neuen Identität”

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