Ein Quartiernetzwerk gegen häusliche Gewalt

Interview mit Eva Hauser (Stadt Bern) und Regina Stucki (Mütterzentrum Bern-West) über das Projekt Tür an Tür

Heute startet im Berner Stadtteil Bümpliz-Bethlehem die Kampagne „Tür an Tür – wir schauen hin“ gemeinsam gegen häusliche Gewalt.

Seit 2016 entwickelt die Stadt ein Konzept zur Prävention von häuslicher Gewalt, heute beginnt die praktische Umsetzung des Projekts im Quartier 6: „Ausgangspunkt war eine politische Aktion im Stadtrat (die interfraktionelle Motion StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt) und ein weiterer Schub erhielt das Projekt durch die Erkenntnis aus der Zeit von Corona, dass die Gewalt zunimmt, je mehr Menschen zu Hause bleiben. Und häusliche Gewalt ist leider allgegenwärtig“, sagt Projektleiterin Eva Hauser vom Amt für Erwachsenen- und Kinderschutz der Stadt Bern. Am Projekt beteiligt sind auch der Verein VBG und das Mütterzentrum Bern-West mit seinen bunten Räumen im Hochhaus an der Waldmannstrasse 15.

Die Kantonspolizei schreibt in ihrem Bericht 2021, dass „die Wohnung kein sicherer Ort ist“ und dass 1929 Gewaltdelikte registriert wurden; 72 Prozent der Opfer waren Frauen und 76 Prozent der Täter waren Männer. In der ganzen Schweiz registrierte die Polizei im selben Jahr 19’341 häusliche Straftaten und alle drei Wochen einen Frauenmord. Der gefährlichste Ort für Frauen ist deshalb die eigene Wohnung. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs: im Polizeibericht erscheinen nicht die viele Opfer, die an Beratungsstellen und Frauenhäuser gewandt haben oder keine Lösung für ihr persönliches Leid gefunden haben.

„In der Schweiz gilt der Grundsatz, dass sich der Staat so wenig wie möglich in Familien- und Paarangelegenheiten einmischen soll. Es ist aber auch die Pflicht des Staates, Menschenrechte wie das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit, das Recht auf Freiheit und Sicherheit oder das Recht auf Leben zu schützen. Um diesen Schutz zu gewährleisten, darf häusliche Gewalt nicht länger als Privatangelegenheit betrachtet werden. Zu diesem Grundsatz hat sich auch die Schweiz mit der Ratifizierung der Istanbul-Konvention verpflichtet“, heisst es im Projektkonzept „Tür an Tür“.

Was ist häusliche Gewalt?

Die Istanbul-Konvention unterscheidet zwischen zwei Arten von häuslicher Gewalt: Gewalt zwischen Partnern in einer Beziehung und Gewalt zwischen Eltern und Kindern. Die Formen der Gewalt sind unterschiedlich. Es gibt:

  • Körperliche Gewalt, z. B. Kratzen, Ohrfeigen, Schlagen, Treten, Würgen.
  • Psychische Gewalt: Beleidigungen, Anschreien von Kindern, Ausnutzung von Kindern als Druckmittel, vorsätzliche Beschädigung von persönlichem Eigentum, Androhung von körperlicher Gewalt.
  • Sexualisierte Gewalt, z. B. aufdringliche Annäherung oder sogar Vergewaltigung eines Kindes.
  • Sozioökonomische Gewalt, z. B. Verbot von Kontakten mit der Aussenwelt, soziale Isolation, Freiheitsentzug, Kontrolle der Finanzen, Arbeitsverbot.

Die Folgen von Gewalt

Kinder, die Zeugen von Gewalt zwischen ihren Eltern werden, sind per definitionem Opfer häuslicher Gewalt, auch wenn sie selbst keine Gewalt erlitten haben. Je nach Dauer und Intensität der miterlebten oder erlebten Gewalt können Kinder oder Jugendliche Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen, Entwicklungsstörungen, Bindungsstörungen, aber auch Gewalttoleranz oder Gewaltausübung in den Familien, die sie als Erwachsene gründen, entwickeln.

Das Tabu abbauen

Häusliche Gewalt ist mit Scham behaftet, und oft wollen die Menschen nicht, dass jemand davon erfährt. Aus diesem Grund zielt das Projekt Tür an Tür darauf ab, das Tabu zu brechen, indem das Bewusstsein in der gesamten Nachbarschaft geschärft wird und die Menschen darüber informiert werden, welche Handlungsmöglichkeiten sie haben, wenn sie Zeugen häuslicher Gewalt werden. So können Nachbarn sowohl für Opfer als auch für Täter zu einer ersten Anlaufstelle werden, um über Gewalt zu sprechen.

Wenn alle Nachbarn ihre Augen, Ohren und Türen für Betroffene von häuslicher Gewalt öffnen, können sie erste Hilfe anbieten, indem sie zuhören und sie an eine Beratungsangebot weiterleiten. „Das wie ist die zentrale Frage“, sagt Frau Hauser. Kampagnenflyer geben erste Tipps und Kontaktadressen, während zwei kostenlose Workshops am 11. und 16. März den Interessierten konkrete Hinweise geben, wie sie mit einem Gewaltfall in ihrem Umfeld umgehen können. Häusliche Gewalt dürfe aber nicht zur Belastung für die Menschen werden, die helfen wollen: „Wir sagen ganz klar: Schätzen Sie individuell ab, was Sie tun können, gefährden Sie sich nicht. Auch Sie als Umfeld können sich jederzeit bei der Fachstelle für häusliche Gewalt der Stadt Bern beraten lassen. Sprechen Sie mit ihnen, wenn Sie Zweifel haben oder wenn Sie als nahestehende Person des Opfers Hilfe brauchen. “

Warum in Bern-West?

„Häusliche Gewalt kommt in allen Schichten vor, unabhängig von Herkunft, Nation, Religion, finanziellen Mitteln, aber im Migrationskontext ist sie sichtbarer. Manche Menschen haben wenig soziale Netze und starke Ressourcen“, sagt Eva Hauser. Bern-West wurde aber nicht wegen des hohen Migrationsanteils für die Pilotphase des Projekts ausgewählt, sondern weil hier ein starkes Nachbarschaftsnetz besteht. Im Zentrum steht das Mütterzentrum Bern-West. Diese Institution war das erste Mütterzentrum, das in der Schweiz gegründet wurde, und verfügt heute, nach 30 Jahren, über ein Team von rund 30 Mitarbeitenden, die viele verschiedene Sprachen sprechen, eine Mütter-und Vaterberatung vor Ort, eine Kinderbetreuung, Tanz- und Singangebote, ein Café und viele weitere Möglichkeiten der Begegnung und des Austauschs – so die Betriebleiterin Regina Stucki. Jährlich nutzen rund 8000 Besucher*innen – jung und alt – die Angebote.

Bern West wurde deshalb ausgewählt, weil hier ein Quartiernetz besteht, das die Verbreitung von Informationen ermöglicht. „Was in einem Quartier wie Kirchenfeld nicht möglich wäre“, betonte Stadtrat Reto Nause an der Pressekonferenz. Nach der Auswertung der Pilotphase Ende Jahr soll aber das Projekt auch in andere Stadtteile getragen werden, eventuell in einer anderen Form, erklärt Hauser.

Ab heute bis zum 11.3. werden Sie bei einem Besuch im Quartier 6 Plakate, Briefkastenaufkleber, Tischtücher in Restaurants und viele Poster von „Tür an Tür – wir schauen hin“ sehen. Scannen Sie einfach den QR-Code, um auf die Projektwebsite zu gelangen, wo Informationen in 10 Sprachen verfügbar sind.

Wenn Sie Opfer oder Zeuge von häuslicher Gewalt sind, warten Sie nicht, bis Sie nach Bümplitz gehen, sondern besuchen Sie jetzt die Website des Projekts, wo Sie nützliche Tipps und Adressen finden: https://www.bern.ch/themen/sicherheit/schutz-vor-gewalt/hausliche-gewalt/tuer-an-tuer

Folgend können Sie sich eine kurze Einführung zur Projekt in Dari, Arabisch, Französisch, Albanisch und Finnisch anhören, die die Mitarbeiter des Mütterzentrums für die Leser von Lucify.ch hinterlassen haben.

Suella Kasmi, Albanisch
Koununa Morsil, Arabisch
Atifa Yamma, Dari
Tiina Koura, Finnisch
Samira El-Hage, Französisch

Über Perla Ciommi

Perla ist Film- und Kulturwissenschaftlerin. Ihre Leidenschaft für die Filmproduktion begann 2000 in Bologna, Italien mit einem Videokurs. Als sie ein Jahr später einen Dokumentarfilm in Indien drehte, entschied sie für sich, dass dies ihr Weg sein wird. Seitdem dokumentierte sie mit ihrer Kamera unter anderem die Häuserbesetzerszene in Paris, die Community des Radio RaBe in Bern, die Lindy-Hop-Szene in der Schweiz und die politische Partizipation von Migrantinnen in der Schweiz. Nach einer Weiterbildung in Kommunikation hat sie sich auch dem Journalismus und der Kreation von Webinhalten gewidmet.

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