Der stille Schrei der Wayunkerra Puppe

Die Wayuu Puppen gelangen nicht so leicht in die Schweiz, denn sie sind am meisten in Kolumbien verbreitet. Du musst Einiges über die ganze Kultur dieses indigenen Stammes wissen, um diese Puppen zu finden und ihren wahren Wert zu erkennen. Es gibt eine sehr tiefe Verbindung zwischen den Wayuu und der Schweiz, die unglücklicherweise nicht sehr ansprechend ist. 
Ursprünglich werden die Puppen aus Lehm gefertigt, aus der Farbe der Erde. Diese heiligen Puppen wurden von den Nachfahren der Arowaks geschaffen, die um 1500 n.Chr. im Norden Kolumbiens und den Antillen lebten. Wayuu war der Name ihres Volkes.

Build von Karmen Ramírez Boscán
Build von Karmen Ramírez Boscán

Interessanterweise ist das Volk der Wayuu bis heute sehr innovativ und extrem umweltbewusst. Die Wayuu leben matrilokal, was bedeutet, dass nach der Ehe nicht die Frau mit ihrem Ehemann bei seinen Verwandten lebt, sondern umgekehrt. Während in Europa der Adel stets die männlichen Nachfahren bevorzugte, wird in der Wayuu-Kultur ein grosses Fest gefeiert, wenn ein Mädchen geboren wird. Das erste Spielzeug, das ein Mädchen erhält, ist eine Wayunkerra Puppe.
Sie symbolisiert den Beginn einer wundervollen Reise: Die Entwicklung der Weiblichkeit.

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Eine weitere erstaunliche Sache ist, dass Wayuu Leute in erweiterten Familienverbänden leben. Die Familien leben gemeinsam in grösseren Einheiten und bilden Netzwerke mit verschiedenen Aufgaben, um beispielsweise gemeinsam zu gärtnern oder für die Wassergewinnung miteinander zu kooperieren. Wayuu achten stets darauf, möglichst keinen Müll zu produzieren oder so viel wie möglich zu recyceln. Tassen oder Besteck werden zum Beispiel sehr häufig aus den Schalen oder der Haut von Früchten hergestellt. 
Die Wayuu sind zugleich ein Volk des Widerstands: zuerst mussten sie gegen die spanischen, später gegen die niederländischen und britischen Eroberer Widerstand leisten und in jüngerer Zeit gegen die Übermacht internationaler Konzerne, die den Zugang zu natürlichen Ressourcen monopolisieren. Schon immer gab es für die Wayuu diesen Streit um das Land. Darum ist die Erde in all den Wayuu Symbolen sehr präsent. 

Die Wayunkerra Puppe habe ich zufälligerweise in einem Künstleratelier entdeckt, das sich in Nachbarschaft zu unserem Redaktionsbüro befindet. Sie ist nicht aus Lehm, sondern wurde genäht. Die Erinnerung an die Erde ist hier die ungewöhnliche Terracotta-farbene Bemalung auf ihrem Gesicht. Sie besteht aus Linien, die mich einerseits an kurvige Pflanzenstengel erinnert und gleichzeitig auch wie die Bemalung einer Kriegerin aussieht. Dieser Gesichtsausdruck ist das, was ich nie vergessen konnte: Ein stiller Schrei in den Augen, der Ausdruck wie der einer lebendigen Person, die vieles durchgestanden hat. Was verbirgt sich hinter diesem stillen Schrei?

Der grösste Teil des Wayuu Territoriums liegt auf einer 4.000 km2 grossen Landfläche, die La Guajira genannt wird. Das Gebiet ist sehr trocken mit einem Mangel am nötigsten Wasser zum Trinken und für die Landwirtschaft. In der Community Santa Rita Dos beispielsweise gab es über eine Periode von fünf Jahren keinen Regen (2011-2015). Die Folge war, dass die Bevölkerung von 150.000 indigenen Einwohner*Innen an Armut und Mangelernährung litt und ausserdem eine sehr niedrige Lebenserwartung aufwies. Aus diesem Grund wird das alltägliche Leben der Wayuu vom Überlebenskampf dominiert. Das wenige vorhandene Wasser ist unglücklicherweise nicht für alle gleichermassen verfügbar.

Die Streitigkeiten rund um den Wasserzugang wurden durch den Versuch der Regierung, den Damm “El Cercado” zu errichten, um für die Bevölkerung Wasser in Trockenperioden zur Verfügung zu stellen, nur verstärkt. Die Konstruktion des Dammes war mit der Vertreibung eines Teils der indigenen Gemeinschaften verbunden. Das Versprechen der Regierung war, neun Gemeinden durch den Bau von Aquädukten für den Zugang zu Wasser zu unterstützen. Doch die Aquädukte wurden nie gebaut. Immer und immer wieder wurde das Geld gestohlen, das für die Konstruktion der Aquädukte zugewiesen war.  
Stattdessen schnitt der Bau des Staudamms weiteren 6 von 15 existierenden Gemeinden in La Guajira den Zugang zur Wasserversorgung durch den Rio Rancheria ab, von dem sie in höchstem Masse abhängig sind. Im Moment wird durch den Staudamm stattdessen die Wasserversorgung für private Konzerne sichergestellt, die in der Region Reis anbauen. Weder eine Gemeinschaft noch Einzelpersonen können dort Wasser entnehmen.

Die Wayuu Bevölkerung beschuldigt auch die Kohle-Mine Cerrejón für die Verschmutzung der Umgebung und den Abzug des Wassers aus dem Rio Rancheria. Dieser Fakt wird von den Regierungsstellen zurückgewiesen.
Das Wasser, das nicht von den Minen verbraucht wird, ist kaum trinkbar. Kinder, die am nahe gelegenen Fluss spielen, werden krank. Dennoch hat die Regierung bisher keine Studie in Auftrag gegeben, wie die Verschmutzung minimiert werden könnte.
Die Mine wurde bereits in den 1980er Jahren errichtet und entwickelte sich zu Lateinamerikas grösster Kohlemine (ca. 690 km2). Die Miteigentümer der Mine sind die lokalen Tochterunternehmen des Schweizer Konzerns “Glencore”, des britisch-australischen Konzerns “BHP Billiton” und des südafrikanisch-britischen Konzerns “Anglo American”. In Übereinstimmung in einem Vertrag mit der kolumbianischen Regierung, gilt die Bewilligung zur Betreibung der Mine bis 2034.

Im Jahr 2017 wurde in einem Bericht der NGO (Non Government Organisation) “Human Rights Watch” an die Vereinten Nationen die Situation in Kolumbien als humanitäre Krise eingestuft. Während in der Mine 2,7 Millionen Liter Wasser pro Tag verbraucht werden, hat eine gewöhnliche Person in La Guajira Zugang zu lediglich 0.7 Liter ungefiltertem Wasser pro Tag (laut Bericht des UN Entwicklungsprogramms).

Die Absicht ist offensichtlich: Wenn vorher die indigenen Gemeinschaften maximal 15 Meter tief graben mussten, um Wasser zu gewinnen, müssen sie nun bis zu 120 Meter tief in die Erde gelangen, um einen Zugang zu erhalten, da die Mine auch unterirdische Wasserressourcen beansprucht. 
Wenn sie Wasser finden, gibt es keinerlei Garantie dafür, dass dieses Wasser auch drinkbar ist. Um noch mehr statistische Fakten anzufügen: Zwischen 2007 und 2017 starben 5000 Kinder der Wayuu an Unterernährung und an den Folgen des verschmutzten Trinkwassers. 

Das Wasser in den indigenen Gebieten Kolumbiens kostet mehr als 40 US-Dollar pro Woche. Es kostet ein Menschenleben.

Obwohl das “Water and Sanitation Infrastructure and Service Project” (beendet im Jahr 2018) innerhalb von 11 Jahren, 90 Millionen US-Dollar bereitgestellt hat, um den Wasserzugang zu verbessern und vertriebene Gemeinschaften zu unterstützen, bleibt die aktuelle Realität vieler Wayuu Stämme ein Kampf. Viele lokale Aktivist*Innen riskieren ihr Leben, um die Lebensqualität ihrer Gemeinschaften ein wenig zu verbessern. Ihr Leben ist massiver politischer Gewalt ausgesetzt.

Wasser bedeutet für die Wayuu sehr viel mehr, als nur den Durst zu bekämpfen. Tatsächlich ist eine der wichtigsten Göttinnen der lokalen Kultur die Göttin Mareiwa, die Herrscherin des Wassers und des Regens, die Mitschöpferin allen Lebens auf der Erde. Die Wayuu sind eine sehr ökologische und feminine Kultur. Das Land und das Wasser sind feminin. Die Frau ist Leben. Aus diesem Grund haben die Wayuu Puppen, die auch Wayunkerras genannt werden, so eine starke Symbolkraft.

Heutzutage gibt es viele verschiedene Arten von Wayuu Puppen im Internet zu kaufen. Nicht alle von ihnen sind Symbole des Kampfes. Einige werden zu touristischen Zwecken verkauft und nicht alle werden von Wayuus hergestellt. Schau ihnen in die Augen: Wenn du einen stillen Schrei wahrnehmen kannst, dann hast du sie gefunden.

Die echte Wayuu!

Über Anna Butan

Anna speaks French, German, English and Russian. She obtained a Master Degree at the University of Bern (Cultural Studies) and a Bachelor at the Lomonosov Moscow State University (Philology). Anna has big interest in such themes as: identity, cultural hybridity, music, and raising children in multicultural context. She is convinced that our children can teach us a lot. They are not born with stereotypes but they risk to acquire them later under external circumstances. Our task as parents is to help them grow as conscious and culture-aware humans.

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