Wir fordern Chancengleichheit

Wir fordern Chanchengleichheit beim Hochschulzugang für Geflüchtete in der Schweiz – unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus

Der Zugang zur Universität und zu den Hochschulen in der Schweiz ist abhängig vom Aufenthaltstatus, was die Geflüchteten als ungerecht empfinden. Während Bildung ein natürliches Recht jedes Menschen in der Schweiz ist, so ist dieses Recht weder für Menschen mit einem N Status noch für Abgewiesene gedacht. In manchen Kantonen hängt das Recht, einen Sprachkurs zu bekommen, von einem bestimmten Status ab. Wenn wir über den Zugang zu Hochschulen und Unversitäten sprechen, gibt es noch grössere Hürden.

Das Thema ist so wichtig und gross, dass im Rahmen der AG „Integration durch Bildung“ im Oktober 2020 fast 50 Personen – studentische Geflüchtete und regulär Studierende – zusammenkamen, um eine Veränderung der aktuellen Situation zu fordern. Lucify hat mit der AG ein interview gemacht:

Lucify:  Könntest du bitte die Arbeitsgruppe “Integration durch Bildung” und ihre Geschichte vorstellen? 

Perspektiven – Studium: In der Schweiz wird oft über anstatt mit geflüchteten Menschen gesprochen. Es existieren viele Vorurteile und die betroffenen Menschen haben nur selten die Möglichkeit, ihre Erfahrungen mitzuteilen. Diese Dynamik wollten wir mit der Arbeitsgruppe «Integration durch Bildung» verändern. Im Rahmen der Arbeitsgruppe kamen 50 Personen – studentische Geflüchtete und freiwillig engagierte Studierende – zusammen. Ziel war es, Forderungen rund um das Thema Bildung für Geflüchtete und insbesondere Zugang zum Studium zu erarbeiten und diese an den Bund, Kantone und Hochschulen zu richten. 

Die AG wurde von Perspektiven – Studium lanciert, einem Projekt des Verbands der Schweizer Studierendenschaften (VSS), das sich für einen chancengerechten Hochschulzugang für Geflüchtete einsetzt.   

Lucify:  Was bedeutet der Titel der Arbeitsgruppe “Integration durch Bildung”? 

Perspektiven – Studium: Bildung ist der Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe. Das beginnt mit Sprachkursen: Ohne Kenntnisse der lokalen Sprache entstehen kaum Kontakte zur lokalen Bevölkerung und bereits Tätigkeiten wie der Kauf eines Bahntickets werden zu grossen Herausforderungen. In einem nächsten Schritt bieten Aus- oder Weiterbildungsmöglichkeiten wichtige Grundlagen, um auf dem Schweizer Arbeitsmarkt Fuss zu fassen. Ein Studium ist eine Ausbildungsmöglichkeit. Wenn Geflüchtete also das Potential und den Willen mitbringen, sollten sie auch die Chance erhalten, hier zu studieren. 

Manahil Mohammad hat an der Arbeitsgruppe teilgenommen. Sie erzählt: “Ursprünglich komme ich aus dem Sudan. Seit ungefähr 5 Jahren bin ich in der Schweiz. Ich bin verheiratet und habe eine Tochter. Im Sudan habe ich Physik studiert und zum Glück wurden meine Bachelor- und Master-Diplome hier anerkannt. Im Moment mache ich ein Praktikum am Paul-Scherrer-Institute und möchte hier in der Schweiz einen PhD machen.” 

Schätzungen gehen davon aus, dass 10-20% Prozent aller Geflüchteten in der Schweiz wie Manahil die nötige Vorbildung haben, um hier ein Studium zu beginnen oder fortzuführen. Leider ist die Anerkennung von Diplomen sehr komplex. Deshalb erleben viele Geflüchtete eine Dequalifizierung. Das bedeutet, dass sie nur im Niedriglohnsektor Arbeit finden und ihr Potential und ihre Ausbildungen nicht anerkannt werden. Zum Glück gibt es an einigen Hochschulen Projekte, die qualifizierte geflüchtete Menschen auf ihrem Weg begleiten. Manahil wird zum Beispiel vom Verein SEET – Support Education, Empower Together – mit einem Mentoring, Workshops und situativer finanzieller Hilfe unterstützt. 

Heute werden vermehrt Brückenangebote, die Geflüchtete auf ein Studium vorbereiten, von staatlicher oder kantonaler Seite mitgetragen – beispielsweise Horizon Académique in Genf oder START! Studium an der Universität Zürich. Das ist eine wichtige Entwicklung! Denn Bildung und Integration sind immer mehrseitige Prozesse – die betroffenen Personen bringen sich, ihre Fähigkeiten und Gedanken ein, benötigen dafür aber auch Offenheit und Anerkennung seitens der Gesellschaft. Im Gegenzug profitieren alle vom Potential und dem Wissen der neu ankommenden Menschen. 

Lucify:  Wie gross ist die Chance für  Geflüchtete, dass  sie ein reguläres Studium aufnehmen können? 

Perspektiven – Studium:  Das erste Hindernis für viele  Geflüchtete  ist, dass sie kaum Informationen  über ihre Möglichkeit, hier zu studieren, erhalten. 

Wenn Geflüchtete an eine Hochschule, also an eine Universität oder Fachhochschule gelangen, stellt die Immatrikulation eine grosse Herausforderung dar. Von Ausländer*innen verlangen viele Hochschulen ein Sprachzertifikat auf Niveau B2/C1. Sprachkurse werden aber von vielen kantonalen Integrationsdiensten  oft nur bis zu einem tieferen Niveau bezahlt.  Zudem müssen Ausländer*innen für die Immatrikulation eine in der Schweiz anerkannte Maturität oder sogar einen BA-Abschluss einer anerkannten Universität im Ausland vorweisen können. Nicht alle Geflüchteten hatten die Zeit, ihre Diplome vor ihrer Flucht einzupacken, manchmal gehen sie auch auf der langen und beschwerlichen Reise verloren. Wenn Diplome vorhanden sind, müssen sie teuer übersetzt und beglaubigt werden – die betroffenen Menschen müssen die Kosten selbst übernehmen. Geld stellt somit eine weitere Hürde dar, denn ein Studium wird von der Sozialhilfe nicht unterstützt und muss selbst finanziert werden.   Alles in allem also kein einfacher Weg.  Dennoch versuchen viele geflüchtete Menschen diese Hürden zu überwinden. 

 “Ich wurde nicht gut informiert, wie das Bildungs- und Arbeitssystem hier funktioniert. Deshalb wollte ich erfahren, was mein Weg in der Schweiz ist. Für mich ist vor allem die Sprache eine grosse Herausforderung – ich muss Deutsch und Englisch lernen, um hier zu doktorieren. Ich muss am Ball bleiben, bis ich mein Ziel erreicht habe. ” Manahil, Teilnehmende am Projekt

Lucify:  Wie hat die Arbeitsgruppe «Integration durch Bildung» auf diese Hindernisse reagiert?  Was fordert die Arbeitsgruppe?  An wen richten sich die Forderungen?  

Perspektiven – Studium:  Die Teilnehmenden der Arbeitsgruppe haben sich über ihre Erlebnisse auf dem Weg zu einem Studium ausgetauscht. Gemeinsam haben sie die Herausforderungen  und mögliche Lösungsansätze diskutiert.  Daraus wurden dann Forderungen entwickelt. Jede Forderung reagiert auf eine konkrete Hürde beim Hochschulzugang für Geflüchtete. Beim Thema Sprache lautet die Forderung beispielsweise:  

“Geflüchtete sollen von Anfang an (bereits nach Ankunft in den Zentren des Bundes und der Kantone) und unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus in der Schweiz, Zugang zu niveaugerechten und finanzierten Sprachkursen erhalten, die ihrem Potential und Bedarf entsprechen.”  Diese Forderung richtet sich konkret an den Bund und die Kantone. Interessiert? Zum gesamten Forderungskatalog geht es hier.

Lucify:  Haben die Forderungen eine Wirkung?  Hat die Arbeitsgruppe ihre Ziele erreicht?  

Perspektiven – Studium:  Ja, definitiv. Die Forderungen bilden nun die Grundlage der politischen Arbeit von Perspektiven – Studium. Einerseits bringen wir die Forderungen gemeinsam mit lokalen Projekten für Geflüchtete an die Entscheidungsträger*innen an den Hochschulen. Andererseits arbeiten wir auf kantonaler und vor allem nationaler Ebene. Gemeinsam mit Politiker*innen reichen wir Fragen an den Bundesrat oder Vorstösse ein, um Veränderung anzustossen. 

Manahil betont einen weiteren Aspekt der Arbeitsgruppe: Meine Erwartung wurden übertroffen. Die Gruppe hat mir wirklich sehr geholfen, damit ich das Bildungssystem in der Schweiz verstehe. Ich habe keine Angst mehr vor dem Studium – ich möchte hier studieren und ich weiss, dass ich es kann. Ich habe eine grosse Hoffnung in mir und das bringt Energie. 

Lucify:  Wird die Arbeitsgruppe ihre Arbeit fortsetzen? Und beabsichtigt, andere Ziele zu verfolgen? 

Perspektiven – Studium:  Ja, einige der Teilnehmenden agieren nun als Botschafter*innen der Arbeitsgruppe. Sie setzen sich dafür ein, dass die Gesellschaft von den Hürden beim Hochschulzugang für Geflüchtete erfährt.

Manahil ist eine dieser Botschafter*innen und erklärt: “Ich möchte eine Rolle in diesem Land spielen und nicht einfach zu Hause bleiben. Ich möchte gemeinsam Lösungen entwickeln, damit neu ankommende Menschen eine bessere Situation vorfinden. Ich möchte die Zukunft mitgestalten.” 

Möchten auch Sie mithelfen und den Zugang zu Bildung für geflüchtete Menschen erleichtern? Unterschreiben Sie die Petition “Bildung für alle – jetzt!” 

Über Mahtab Taemeh

Mahtab stammt aus Iran und hat in Teheran persische Literatur studiert. Während ihres beruflichen Werdeganges hat sie als Sendeleiterin und Produzentin bei Radio Teheran und dem iranischen Nationalradio sowie als Reporterin und Autorin bei mehreren Zeitungen gearbeitet. Ausserdem war sie mehrere Jahre an der Kunst Akademie und Kulturerbe-Organisation in der Forschung tätig. 2015 hat sie ihr Land infolge der politischen Situation verlassen und ist mit ihrem Sohn in die Schweiz geflüchtet. Hier engagiert sie sich in verschiedenen Projekten. Zurzeit führt Mahtab einen Stadtrundgang bei StattLand, ist Moderatorin der Sendung vox mundi bei Radio Rabe und seit Juli 2019 Sendeleiterin der Sendung Torfehaye Javidan.

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