Stimmrecht für alle

Ein Viertel der Schweizer Bevölkerung sind Migrant*innen, und viele von ihnen haben kein Wahlrecht. Beim Wahlrecht geht es nicht nur um die Teilnahme an den politischen Angelegenheiten eines Landes, sondern auch um die Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft, in der man lebt und arbeitet. Das Wahlrecht bedeutet, dass man als Mitglied der Gesellschaft aufgenommen wurde und das Recht hat, über Fragen zu entscheiden, die einen betreffen.

Was ist die Definition von direkter Demokratie in einem Land, in dem ein Viertel der Bevölkerung kein Wahlrecht hat?

Kürzlich wurden Gruppen gebildet, die sich mit diesem Thema beschäftigen und versuchen, die einschlägigen Gesetze zu ändern. Eine dieser Gruppen ist “ Stimmrecht für alle“. Lucify interviewte Anna Tanner, die Leiterin der Arbeitsgruppe „Stimmrecht für alle“. Anna Tanner ist Vizepräsidentin der SP Kanton Bern und Stadträtin in Biel.

Lucify: Könntest du bitte die Arbeitsgruppe «Stimmrecht für alle» vorstellen?

Stimmrecht für alle: Die AG Stimmrecht wurde im November 2020 gegründet. Die AG Migrant*innen arbeitet bereits an ähnlichen Themen. Daher besteht die AG auch zu einem grossen Teil aus Mitgliedern der SP Migrant*innen, der SP Lyss und Mitgliedern der Geschäftsleitung des Kanton Berns. Nun hat sich die Gruppe entschieden das Thema zu erweitern und auch Veranstaltungen nicht ausschliesslich mit dem Thema Stimmrecht zu organisieren.

Lucify: Warum wurde diese Gruppe überhaupt gebildet? Was war die Notwendigkeit für diese Gruppe?

Stimmrecht für alle: Das Anliegen wurde von der SP Lyss eingebracht, die sich dafür einsetzt, dem Thema Stimmrecht einen wichtigen Stellenwert zu geben. Die Geschäftsleitung der SP Kanton Bern hat diesen Impuls aufgenommen und die Wichtigkeit dieses Themas unterstrichen und diese Arbeitsgruppe einberufen. Im Grossen Rat wurde eine Motion von Samantha Dunning (PSR Bienne) behandelt, welches den Gemeinden die Autonomie erteilen will, dass diese das Stimmrecht für Menschen ohne Schweizer Pass eigenständig einführen können. Die AG hat dieses Postulat zum Anlass genommen, um eine kleine Aktion zu starten. Dabei wurden Statements und Fotos von Betroffenen veröffentlicht, die Argumente geben, das Stimmrecht für Ausländer*innen einzuführen.

Lucify: Was fehlt , wenn man kein Stimmrecht hat?

Stimmrecht für alle: Politische Partizipation ermöglicht es den Menschen, sich voll am Leben der Gemeinschaft zu beteiligen. Sie ist ein Faktor der Zugehörigkeit und Integration.

Der Zugang zur Einbürgerung in der Schweiz und im Kanton Bern ist mit Schwierigkeiten verbunden: Die Reise ist lang und kostspielig. Der Zugang zu Einbürgerung und politischen Rechten hängt von den finanziellen Bedingungen und der Integration ab.

Vielfalt ist der Schlüsselbegriff einer modernen Gesellschaft – wagen wir es, dies bei politischen Entscheidungen zu tun.

Lucify: Ist das für die Migranten selbst überhaupt ein Thema?

Stimmrecht für alle: Dies kann nicht für alle verallgemeinert werden. Für einige ist es sicher mehr ein Thema als für andere. Was gesagt werden kann, ist dass viele Menschen mit existenziellen Fragen und Problemen konfrontiert sind und sich beispielsweise vor einer Rückstufung im Asylverfahren oder im Aufenthaltsstatus fürchten. Das sind reale Gefahren, die im Moment auch sehr präsent sein können. Es gibt viele Themen, die wichtig sind zu thematisieren.

Lucify: Was ist deiner Meinung nach die Definition der direkten Demokratie in einem Land, in dem ein Viertel der Menschen in diesem Land kein Wahlrecht hat?

Stimmrecht für alle:
Ich finde, dass unsere Demokratie nicht die ganze Bevölkerung berücksichtigt. Ein Thema ist sicher das vorliegende: um wirklich die Meinung der hier lebenden Menschen abzuholen müssen auch Menschen ohne CH Pass mitreden können. Solange das nicht so ist, werden wir der Demokratie, so wie ich sie verstehe und gerne Leben würde, nicht gerecht. Ein anderes Thema ist auch die Mitbestimmung der jugendlichen. Ich wäre auch dafür, dass wir das Stimmrechtsalter 16 einführen würden. 

Lucify: Gibt es in der Schweiz Kantone, in denen die Migranten ohne Schweizer Pass die Stimmrecht haben? Mindestens in Gemeindeebene?

Stimmrecht für alle: In zwei Kantonen in der Romandie dürfen Ausländerinnen und Ausländer auf kantonaler Ebene abstimmen und wählen (aktives Wahlrecht). Sie können sich jedoch nicht selbst zur Wahl stellen (kein passives Wahlrecht). Das sind die Kantone Jura und Neuenburg.

Lucify: Hat die Arbeitsgruppe die Exekutivgewalt, um das Gesetz zu ändern?

Stimmrecht für alle: Die AG selber hat darauf keinen direkten Einfluss. Sie kann jedoch die Thematik ins Bewusstsein der politischen Debatten rufen und mit unterstützenden Kampagnenelementen die Forderungen in der Politik begleiten.

Lucify:  Was ist das Ziel dieser Gruppe? Und was ist das Hauptanliegen der Gruppe?

Stimmrecht für alle: Angefangen hat die Gruppe mit der Thematik des Stimmrechts für Menschen ohne CH Pass. Nun hat sich die AG dafür entschieden, die Thematik auf den Asylbereich zu erweitern. Weitere Themen die die AG interessiert ist zum Beispiel die Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund in wichtigen politischen Ämtern. Es geht vor allem darum die Informationen zu verbreiten und innerhalb der SP und darüber hinaus zu sensibilisieren.

Lucify: Welche Themen hat die Gruppe ganz oben auf ihre Tagesordnung gesetzt?

Stimmrecht für alle: Im Moment geht es um die Lebensbedingungen für die Menschen in den Asylzentren. Die AG sieht dort deutlich einen Handlungsbedarf.

Lucify: Hat diese Gruppe nur ein bestimmtes Thema für sich oder stehen verschiedene Themen auf der Tagesordnung?

Stimmrecht für alle: Die AG organisiert am 10. Mai eine Bildungsveranstaltung zu den Lebensumständen in den Asylzentren. Erfahrungsberichte von dort wohnenden Menschen beschreiben die unwürdigen Lebensbedingungen. Eine Arbeitsgruppe der SP Kanton Bern hat sich diesem Thema angenommen und wird eine Bildungs- und Sensibilisierungsveranstaltung am 10. Mai veranstalten. Zu Wort kommen Betroffene, Anwältinnen, Aktivistinnen und Politikerinnen. Ihr alle seid herzlich willkommen, um mehr über die Situation aus verschiedenen Blickwinkeln zu erfahren. Es geht auch darum, zusammen zu diskutieren, wo ein Handlungsbedarf vorhanden ist, welche Schritte bereits von verschiedenen Seiten eingeleitet wurden und welche Haltung vertreten werden sollte.

Lucify: Was kann man von dieser Gruppe erwarten? Oder besser gesagt, was erwartet diese Gruppe von sich selbst?

Stimmrecht für alle: Die Gruppe möchte vor allem verschiedene Akteure vernetzen und die Betroffenen Perspektive ganz stark hervorbringen. Dafür ist der AG einen konstruktiven Dialog mit allen Beteiligten sehr wichtig.

Lucify: Wie kann man über die Gruppe mehr erfahren? Ist die Gruppe für die Interessierte öffen?

Wenn jemand will mit der Arbeitsgruppe mitmachen, wie ist möglich?

Stimmrecht für alle: Mit dieser Frage hat sie die AG noch nicht auseinandergesetzt. Ganz spontan würden wir nun antworten: klar, alle sind willkommen

Lucify: hast du etwas besonders, dass ich nicht gefragt habe?

Stimmrecht für alle:  Vielen Dank für das Interview!

Über Mahtab Taemeh

Mahtab stammt aus Iran und hat in Teheran persische Literatur studiert. Während ihres beruflichen Werdeganges hat sie als Sendeleiterin und Produzentin bei Radio Teheran und dem iranischen Nationalradio sowie als Reporterin und Autorin bei mehreren Zeitungen gearbeitet. Ausserdem war sie mehrere Jahre an der Kunst Akademie und Kulturerbe-Organisation in der Forschung tätig. 2015 hat sie ihr Land infolge der politischen Situation verlassen und ist mit ihrem Sohn in die Schweiz geflüchtet. Hier engagiert sie sich in verschiedenen Projekten. Zurzeit führt Mahtab einen Stadtrundgang bei StattLand, ist Moderatorin der Sendung vox mundi bei Radio Rabe und seit Juli 2019 Sendeleiterin der Sendung Torfehaye Javidan.

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