Sadaf

Sie heisst Sadaf. Sie ist sechsunddreissig Jahre alt und eine im Iran geborene Afghanin. Gewisse fremde und bestimmt schreckliche Wege haben sie in die Schweiz gebracht. Sie erzählt nicht davon. Immernoch ist sie auf der Suche nach ihrem Weg. Vor kurzem hat sie angefangen, als Pflegerin in einem Altersheim zu arbeiten. Das macht sie froh. Sie will eine Weiterbildung machen und noch mehr erreichen. Sie kann es jetzt, ihre Kinder sind schon gross. Ihre Augen lächeln, wenn sie darüber redet.

Sadaf hat drei Kinder – eine Tochter, die zweiundzwanzig ist und Zwillinge, die vor Kurzem zwanzig geworden sind. Sadaf musste mit vierzehn Jahren heiraten. Zum Glück war ihr Mann nicht viel älter als sie, er war damals neunzehn. Sie haben einander geliebt, sagt sie, aber sie findet trotzdem, dass es eine kindliche Liebe war. Eigentlich ungenügend für eine Ehe. Das erste Mal wird sie nie vergessen. Sie hat nichts, gar nichts gewusst, noch nicht einmal wie ein nackter männlicher Körper aussieht. Niemand hat sie aufgeklärt, sie hatte niemals auch nur eine Gelegenheit ein Bild von einem nackten Mann zu sehen. Als sie mit sechzehn erfahren hat, dass sie mit Zwillingen schwanger ist, wusste sie nicht was sie darüber denken sollte. Niemand in der Familie hatte bisher Zwillinge. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen oder Angst haben soll. Nachher, als die Kinder geboren waren, wusste sie ebenso nicht, was sie nun tun soll. Sie konnte sich auf niemanden verlassen und hatte keine Ahnung wie man Kinder erzieht, wie man sich Kindern widmen soll. Das Haus, sie selbst, die Kinder – überall herrschte ein reines Chaos. Ihr einziges Ziel war stets, dass auch dieser Tag vergeht.

Sadaf wohnt in der Nähe ihrer Mutter und ihrer Schwester, aber sie kommt mit ihnen nur schlecht aus. Die beiden missbilligen Sadaf und kommen nicht oft zu ihrem Haus. Sie sagen: „Bei euch ist es immer gespannt. Du gehorchst deinem Mann nicht.“ Sadaf kann nicht nachvollziehen, warum die Beiden die fremde Sprache nicht lernen wollen und warum sie nicht für sich selbst einstehen. Sie können nicht verstehen, wie Sadaf sich wagt, ihren Söhnen kein Tuch ins Badezimmer zu bringen, warum sie sich dutzende Bücher in ihrer Muttersprache bestellt und warum sie gleichzeitig auch auf Deutsch liest, obwohl sie eine gute Hälfte des Textes kaum versteht.

Sadaf trägt Jeans, bedeckt sich den Kopf nicht und hat einen Bob-Haarschnitt. Sie hat zwei Wochen nicht mit ihrem Mann geredet nachdem sie sich die Haare kürzen liess. Als ihre Tochter sie gefragt hat, ob sie ihre langen Haare trotz des Verbots durch ihren Vater schneiden lassen darf, sagte Sadaf ihr, sie müsse niemals um Erlaubnis fragen wenn es um ihren eigenen Körper geht. Jetzt unterstützt Sadaf die Idee ihrer Tochter ins Ausland zu gehen um dort eine Fremdsprache zu lernen. In ihrer Umgebung betrachtet das niemand mit Wohlwollen.

Sadaf kann Auto fahren. Als sie ihrem Mann gegenüber das erste Mal erwähnte, dass sie das lernen will, sagte er sie solle damit warten bis er selbst zuerst die Führerprüfung besteht. Danach, wann er es gut kann wird er ihr nach zwei oder drei Jahren alles zeigen und sie lehren. Sie wollte das nicht und hat sich bei einer Fahrschule angemeldet und vor ihrem Mann die Führerprüfung bestanden.

Sadaf liess ihren Mann sehr lange darüber entscheiden, wann sie gemeinsam zu einem Fest gehen werden. Eines Tages jedoch hat sie ihm gesagt, dass sein „nein“ nur bedeutet, dass er nicht geht. Danach hat sie sich in aller Ruhe ein schönes Kleid angezogen. Am Schluss ist auch ihr Mann mitgegangen.

In der letzten Zeit ist Sadaf traurig. Die Tochter von Verwandten musste mit ihren zwanzig Jahren heiraten, weil sie nach der Meinung ihrer Eltern nicht extrovertiert genug war. Sadaf ist verzweifelt, weil das Mädchen nicht dagegen rebelliert hat. Genauso bedauert Sadaf ihre Cousine, die ein bisschen mehr als zwanzig Jahre alt ist und schon zum Psychiater muss, jedoch trotzdem in einer Ehe bleibt in der sie nicht glücklich ist. Sadaf fällt das schwer. Darum ist sie ehrenamtlich bei einer Organisation tätig, die Frauen mit Migrationshintergrund in der Schweiz unterstützt.

Sadaf sagt, dass sie sich wünscht, dass ihr Mann und alle anderen sie als einen unabhängigen und freien Menschen, mit dem Recht eigene Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, akzeptieren. Niemand sagt sie, hat ihr das beigebracht. Es ist einfach eine von ihren Eigenschaften, eine Grundlage ihrer Persönlichkeit.

Wahrscheinlich weiss Sadaf nicht, was es heisst Feministin zu sein. Gleichzeitig ist Sadaf die grösste Kämpferin für Frauenrechte die ich kenne.

P.S. Vor ein paar Tagen habe ich nach längerer Zeit wieder von Sadaf gehört. Sie ist aus der Wohnung von ihrem Mann und den Söhnen ausgezogen und wohnt jetzt gemeinsam mit ihrer Tochter in einer anderen Wohnung.

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