Assad ist gefallen-aber der Schmerz bleibt

Im Dezember 2024 stürzte das Assad-Regime. Millionen Syrerinnen und Syrer hatten auf diesen Moment gewartet – doch statt Jubel herrschte Schweigen. In dieser sehr persönlichen Reflexion zum Weltflüchtlingstag erzählt Nour Alshahhal, warum mit dem Fall des Diktators weder die Wunden heilen noch die Angst weicht – und was es heisst, als Geflüchtete zwischen zwei Orten und keinem Zuhause zu stehen.

Ein Sturz – aber kein Schlussstrich

Wenn der Tyrann fällt, fallen die Wunden nicht mit. Während die Welt am 20. Juni den Weltflüchtlingstag begeht, feiern wir Syrer nicht – wir versuchen, die Reste unserer Seelen zu kitten. Dieser Tag, der eigentlich ein Tag der Solidarität sein soll, wurde zu einem Spiegel unseres Schmerzes: jene, die aus ihren Heimatorten vertrieben wurden, die an den Grenzen starben, die ihre Liebsten auf dem Meer verloren – jene, die vor lauter Erinnerung nicht mehr schlafen können.

Ein verspäteter Sturz – und ein vorzeitiger Schock

Über zwei Jahrzehnte lang warteten die Syrer auf diesen Moment: den Fall Assads, der die Macht wie ein Erbe übernahm und Syrien zu einer Sicherheitsplantage und einem offenen Friedhof machte. Doch als der Fall kam, war er nicht das heroische, reine Bild, das sich Millionen Geflüchtete, inhaftierte und Überlebende aus den Massakern ausgemalt hatten. Er war verworren, matt, brutal.

Es war, als sei Assad gegangen – doch sein Schatten blieb. Und mit ihm die Zerstörung.

Flüchtlinge: Ist die Zeit zur Rückkehr gekommen?

In Europa fragten sich Hunderttausende syrische Geflüchtete: Können wir jetzt zurückkehren? Ist nur Assad gefallen – oder auch das System aus Sicherheitsapparat, Korruption, Milizen, Armut und Angst? Die Antwort war verwirrend.

Im Dezember 2024 veröffentlichte Human Rights Watch zwei aufeinanderfolgende Berichte, die die Komplexität der Rückkehrfrage trotz des Sturzes der Führung beleuchteten.

Im Bericht As Many Syrian Refugees Return Home, Others Cannot heisst es:

„Every citizen has the right to return to their home country, safe or not. But … no justification to forcibly return another who remains fearful.“
(Human Rights Watch, 2024)

Die Organisation warnte, dass einige europäische Länder begannen, Asylverfahren auszusetzen oder zu überprüfen – was jedoch keine ausreichende Grundlage sei, Syrien als „sicher“ zu erklären.

Im zweiten Bericht The Need to Continue Protecting Syrian Refugees wurde ein Ende der Zwangsrückführungen gefordert. Human Rights Watch dokumentierte fortgesetzte Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrer, insbesondere aus Nachbarländern wie Libanon und Türkei – darunter Inhaftierungen, Verschwindenlassen und sogar tödliche Vorfälle.

Eine syrische Geflüchtete in der Schweiz, „Ola“ (Pseudonym), sagte:

„Ich fürchte die Rückkehr jetzt mehr als die Fremde. Wie werde ich dem Ort meiner Inhaftierung begegnen? Wie sehe ich mich selbst in meinem Land?“

Am Weltflüchtlingstag erinnern wir uns, dass „Flüchtling“ nicht nur ein rechtlicher Status ist – sondern ein vollständiger psychologischer Zustand: entwurzelt und seines Gefühls der Sicherheit beraubt.

Inhaftierte: Wer freikam – und wer blieb?

Mit dem Sturz füllten sich die sozialen Netzwerke mit Bildern leerer Gefängnisse und Zeugnisse von Überlebenden. Manche traten aus den Zellen, so abgemagert, dass sie ihr Spiegelbild nicht erkannten. Andere erfuhren, dass ihre Familien gestorben, ihre Häuser zerstört waren – und die Zeit Jahrzehnte übersprungen hatte.

Doch hinter manchen Gefängnistüren bleibt das Schweigen. Wir wissen nicht, wer noch immer drinnen ist.

Ein Bericht der Syrian Network for Human Rights (SNHR) vom März 2024 zeigte, dass über 112’000 Personen weiterhin als „verschwunden“ gelten. Die Gesamtzahl der Vermissten seit 2011 schätzt man auf über 136’000 – eine der höchsten Raten weltweit.

Ein Vater, dessen Sohn seit elf Jahren inhaftiert ist, sagte:

„Assad ist gefallen? Aber mein Sohn ist nicht zurückgekehrt. Der Fall ohne Gerechtigkeit bedeutet mir nichts.“
(SNHR, 2024)

Fremdsein: Härter als Exil – härter als Heimat

Nach dem Sturz Assads wurde das Fremdsein noch rätselhafter. Viele dachten, ihr Rückflugticket öffne die Türen zur Heimat – doch sie fanden ein Minenfeld vor:

  • Bleibt mein Haus mein eigen?
  • Wird derjenige, der mein Viertel besetzt hat, jemals abgeurteilt?
  • Sitzt der, den ich einst öffentlich kritisiert habe, immer noch in einer Sicherheitsposition?

Zahlreiche Rückkehrerinnen und Rückkehrer stellten fest: Der schmutzige Hauch der Baath-Partei liegt weiterhin über dem Land.

Am Weltflüchtlingstag ist es schwierig, sich zugehörig zu fühlen – weder hier in der Fremde noch dort, wo man einst lebte.

Der Henker flieht in Schutz – nicht vor Gericht

Baschar al‑Assad wurde nicht verhaftet. Er wurde nicht vor ein Tribunal gestellt, nicht gezwungen, seinen Opfern gegenüberzutreten. Stattdessen floh er unter dem Schutz Russlands.

Ende Dezember 2024 startete ein russisches Privatflugzeug vom Al-Mezzeh-Militärflugplatz und landete in einem Vorort von Moskau. Dort lebt Assad heute in einer luxuriösen Villa, unter dem Schutz des russischen Geheimdienstes – mit der Garantie, nicht ausgeliefert zu werden.

Die Syrian Network for Human Rights kritisiert dies als klare Verletzung der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, die Kriegsverbrechern explizit den Flüchtlingsstatus verweigert.

„Wie kann ein Mann, unter dessen Herrschaft Völkermord, Chemiewaffen-Massaker, Vergewaltigungen und Folter stattfanden, ohne Rechenschaft entkommen?“
(SNHR, 2022)

Assad ging – wie ein König, der seinen Dienst beendet. Sein Rang blieb bestehen, sein Stolz ungebrochen, sein Platz unter den Tyrannen unangetastet.

Zerbrechliche Hoffnung, verlorene Gerechtigkeit

Ja, Assad ist gefallen. Aber es wurden weder Wahrheits-.. Kein würdiges Begräbnis für die Gefallenen, keine Entschuldigung ausgesprochen.

Am 18. Mai 2025 kündigte die Übergangsregierung in Damaskus ein Gremium zur Übergangsjustiz und ein Komitee zur Klärung des Schicksals der Vermissten an. UN-Organisationen begrüssten dies – kritisierten es aber als „verspätet und nicht umfassend genug“.

Assad fiel – aber in die Arme Moskaus. Nicht in die der Justiz.
Die Bilder der Märtyrer leben weiter in den Erinnerungen ihrer Mütter, während die Minarette das Fatiha rezitieren – für jene, deren Gräber unbekannt sind.

Nach Assad – nach dem Schmerz?

Assads Fall bedeutet nicht das Ende des Schmerzes.
Er ist vielleicht der Anfang eines Wegs – aber ein langer Pfad mit grossen Anforderungen: Gerechtigkeit, Transparenz, Anerkennung des Verbrechens, Versöhnung – und der Abbau aller Repressionsinstrumente, die Syrien jahrzehntelang gefangen hielten.

Ja, Syrien ist frei von Assad. Aber wahre Freiheit beginnt erst, wenn wir den Menschen wieder aufbauen – bevor wir die Steine neu setzen.

Am Weltflüchtlingstag: Mehr als ein Status

Flucht ist kein einmaliges Ereignis – sie ist ein andauernder Zustand. Am Weltflüchtlingstag erinnern wir uns daran, dass „Flüchtling“ nicht nur eine rechtliche Kategorie ist, sondern ein tiefer Einschnitt ins Leben: geprägt von Entwurzelung, Trauma und Ungewissheit.

Assad mag gefallen sein. Doch solange keine Gerechtigkeit folgt, keine Wiedergutmachung, keine Rückgabe des Gestohlenen, bleibt der Schmerz.

Die wahre Befreiung beginnt erst, wenn die Menschen wieder aufgerichtet werden – nicht nur das Land.

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